Römer 8, 1-11 Auf frischer Tat ertappt

Norbert Giebel, 10.07.2022

(vor Beginn des Gottesdienstes bekam jeder am Eingang einen Stein in die Hand.)

Liebe Schwestern und Brüder,

ihr habt Steine in der Hand. Vielleicht habt ihr euch mit eurem Stein schon ein wenig angefreundet. Es sind schöne Steine dabei. Was kann man mit einem Stein nicht alles machen? Man kann sie sammeln.  Flache Steine kann man mit einem geschickten Wurf über das Wasser springen lassen. Man kann damit werfen: Fenster einwerfen, Angst machen, sich verteidigen. Man kann andere damit treffen. Man kann sich rächen, zurückwerfen,  man kann die werfen, die mir wehgetan haben.

Es gibt Menschen, die meinen, man könnte mit Steinen seine Rechte durchsetzen. Man wirft auf Menschen oder Einrichtungen, die man hasst: Polizisten, Banken, große Limousinen. Es gibt Menschen, die meinen, man könne mit Steinen für Ordnung sorgen. Heute noch. Man muss nur genügend Leute finden, die mitmachen, die mit werfen, die mit überzeugt sind: „Wir sind im Recht! Jetzt treiben wir das Böse aus!“

Jesus will, dass wir aufhören, mit Steinen zu werfen! Dennoch bitte ich euch, euren Stein während der Predigt in der Hand zu behalten. Denn: Theoretisch können wir alle noch werfen. Und tatsächlich haben wir manchmal auch scharfe Munition bei uns,  die gut geeignet ist,  andere zu verletzten, wenn es in der Regel bei uns auch keine Steine mehr sind.

Ich will euch von einer Steinigung unserer Tage erzählen. Die Geschichte ist erfunden. Sie ist überzogen. Aber sie ist denkbar. Ich habe sie in einer anderen Predigt gefunden. Ich lasse sie einmal hier ins unserer Gemeinde spielen:

Stellt euch vor, ein Mitglied, ein Mann aus unserer Gemeinde, geht in eine  Erotik-Bar. Es spielt für unsere Geschichte keine Rolle, wie es so weit kommen konnte. Es ist so weit gekommen. Das Dunkle, das Verborgene in ihm wurde zu mächtig. Unser Bruder ist spendabel.  Er lädt eine Prostituierte zu einigen Drinks ein. Dann zieht er sich mit ihr zurück. Er ist angetrunken, als er gehen will, und er findet sein Portemonnaie nicht. Ist es ihm gestohlen worden? Hat er es im Büro liegen lassen? Er weiß es nicht. Er kann nicht bezahlen! Die Schläger der Erotik-Bar kümmert das nicht. Sie wollen ihn nicht gehen lassen. Es kommt zur Schlägerei. Unser Bruder, unser Gemeindemitglied, er liegt verprügelt in einer Nebenstraße. Ausgerechnet ein Reporter findet ihn, berichtet von großen Schlägereien im Rotlichtviertel  und  sein Foto kommt in die Zeitung.

Wochen darauf wagt es dieser Bruder, wieder in unsere Gemeinde zu kommen. Es ist sofort still im Foyer. Keiner geht auf ihn zu. Schwestern und Brüder im Glauben wenden ihm den Rücken zu. Niemand hatte ihn angerufen, als er sein Foto in der Zeitung sah. Sie werfen ihre Blicke und verletzen ihn.  Sie werfen ihn mit ihren Vorwürfen, die er sich die ganzen Tage und Nächte selber macht: „Wie konnte er das passieren?“ Er schämt sich, steht wie nackt vor seinen Geschwistern. Einige halten ihren Mund nicht: „Es ist nicht gut, dass du hier wieder auftauchst! Wie stellst du dir das vor?“

Nur ein Mann, ein Gast, er scheint von nichts zu wissen. „Wo liegen denn hier die Gemeindebriefe?“ fragt er laut ins Foyer hinein.  „Ich will mich über diese Gemeinde informieren!“ Als zwei, drei Leute ihm einen Gemeindebrief bringen ruft er wieder: „Brauche ich ein Liederbuch? Wo sind denn hier die Liederbücher? Kann mir jemand helfen?“ Jemand spricht mit ihm. „Gibt es nachher wieder das Kirchen-Cafe oder Mittagessen hier? Ich würde auch zum Mittag bleiben!“ „Der Umbau ist wirklich toll gelungen!“ sagt er so laut, dass es alle hören können. Langsam schafft es dieser Fremde, dass sich mehr Menschen über ihn wundern als über den Ehebrecher, der immer noch stumm in der Mitte steht.

Ich lese den heutigen Predigttext: Johannes 8, 1-11 (Basisbibel)

Jesus aber begab sich zum Ölberg. Früh am Morgen kehrte er zum Tempel zurück. Das ganze Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte sie.
Da führten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau herbei, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm:  »Lehrer, diese Frau da wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. Im Gesetz schreibt uns Mose vor, eine solche Frau zu steinigen. Was sagst du denn dazu?« Mit dieser Frage wollten sie ihm eine Falle stellen, um ihn anklagen zu können. Aber Jesus beugte sich nur nach vorn und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Als sie nicht aufhörten zu fragen, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: »Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen.« Dann beugte er sich wieder nach vorn und schrieb auf die Erde. Als sie das hörten, ging einer nach dem anderen fort, die Älteren zuerst. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die immer noch dort stand. Jesus richtete sich auf und fragte:
»Frau, wo sind sie? Hat dich niemand verurteilt?« Sie antwortete: »Niemand, Herr.« Da sagte Jesus: »Ich verurteile dich auch nicht. Geh! Aber tue von jetzt an kein Unrecht mehr.«

Auf frischer Tat ertappt! Die Frau beim Ehebruch! Und die Gesetzeslehrer bei ihrer Schuld! Auf frischer Tat ertappt beim Ehebruch! Das ist damals wie heute eine klare Geschichte. Da hat man sofort Zuhörer. Nicht zu fassen. „Und die hat bei uns mitgearbeitet!“ Jesus lehrt im Tempel. Viele Hörer haben sich eingefunden. Die Unruhe stört sie. „Was ist da los? Sie bringen jemanden?  Wen bringen sie denn da? Was hat sie getan? Eine Ehebrecherin? Weg mit ihr!  Die gehört hier nicht hin!  Raus mit ihr. Steinigt sie! Was hat die hier zu suchen?“ Alles andere interessiert nicht mehr an dieser Frau. Sie ist eine Ehebrecherin. Mehr muss man nicht wissen. Steinigt sie!

Eigentlich gehören immer zwei zu einem Ehebruch. Den Mann hat man laufen lassen. Die Frauen sind schuld. Sie gehören bestraft. Sie sind die Verführerinnen. Bei Mose steht zwar „Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben.“ (3 Mo 20,10), aber die Männer ließ man laufen.

Der Gang zu einer  Prostituierten   war damals noch nicht einmal gemeint. Das war Unzucht, aber kein Ehebruch, das wurde nicht gut geheißen, aber nicht bestraft. Ehebruch war, wenn jemand mit der Frau eines anderen Mannes Sex hat und in seine Ehe eingebrochen ist.

Im ganzen römischen Reich war Hurerei sehr verbreitet.  Männer konnten auch Nebenfrauen haben, Mätressen. Ehebruch aber, der Verkehr mit einer verheirateten Frau, konnte auch nach römischen Recht mit dem Tod bestraft werden.

Ein Mann und diese Frau hatten die Ehe gebrochen. Auch sie war verheiratet!   Nur darauf stand die Todesstrafe. Halbnackt, in Todesangst steht die Frau vor ihren Anklägern und vor Gott hier im Tempel. Alle sehen ihre Schande. Niemandem geht es um die Frau. Die Frommen sind  Gesetzeshüter  aber keine „Menschenhüter“. Auf das Gesetz passen sie auf. Gottes Ordnung darf nicht verletzt werden. Der Mensch zählt nicht.

Alle sehen auf die Frau, niemand sieht ihre Verzweiflung. Die Pharisäer und Schriftgelehrten haben in ihr ein Mittel für ihren Zweck gefunden:   Sie wollen Jesus eine Falle stellen. Dieser Gutredner, dieser Barmherzigkeitsschwätzer, dieser Liebesidealist! Wie sieht es denn aus in der Realität? Jetzt muss Jesus sich outen.

„Im Gesetz des Mose steht, dass wir sie steinigen sollen. Was sagst du dazu?“ Wenn Jesus dem Gesetz widerspricht und sagt, sie sollen sie laufen lassen, dann stellt er sich über Gottes Wort! Wenn er der Steinigung zustimmt, dann laufen ihm die Leute weg, dann sehen sie, dass Liebe und Barmherzigkeit  Illusionen sind angesichts der Sünde!

Steinigung ist eine schreckliche Art, zu töten. Da zielen Menschen dahin, wo es am meisten weh tut, wo es am meisten Schaden anrichtet. Da wird die Würde des Menschen mit Füßen getreten. Kein Tier würde man so qualvoll töten. Werfen und werfen, treffen und treffen, bis sie tot am Boden liegt. Und jeder hält womöglich seinen Stein, den er geworfen hat, noch für klein und entschuldigt sich damit. Ich habe doch nur einen kleinen Stein geworfen.

Auf die Frau wartet die Hölle. Alle spüren die Spannung, die in der Luft liegt. Mit Steinen in der Hand stehen sie da. Einige haben sich schon einen  guten Vorrat  an „Argumenten“  bereit gelegt. Sie sind im Recht!  Sie dürfen endlich mal wieder zornig sein, ohne Rücksicht. Das befreit die Täter. Der gemeinsame Feind stärkt ihre Gemeinschaft. Gemeinsam das Böse zu schlagen, das verbindet.

Jesus geht in die Hocke. Er erniedrigt sich, wo alle sich erheben! Und er malt mit dem Finger im Sand. Genau so hätte er sich in aller Ruhe die Sandalen binden können. Oder seine Jünger fragen, wie spät es ist  und   ob sie die Einkäufe schon erledigt haben. Genau so hätte er laut fragen können „Wo liegen denn die Gemeindebriefe hier? Brauche ich auch ein Liederbuch für den Gottesdienst?“ Jesus zieht die Blicke auf sich. Die Frau ist geschützt. Sie sehen nicht mehr auf sie. Dann sagt Jesus: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Ihr habt heute Morgen auch Steine in der Hand. Gibt es jemand, auf den ihr gerne werfen würdet? Oder stell dir vor,   deine verborgenen Sünden würden für alle sichtbar werden, du wärst auf frischer Tat ertappt worden, alle könnten deine Sünden sehen: Wie ginge es dir damit? Hätten die Kenner der Schriften, Grund auf dich zu werfen? Jesus jedenfalls würde auch heute die Blicke von dir wegwenden und er würde sagen: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Vor Gott geht es immer schlecht aus, wenn man das Gesetz, wenn man Gottes Willen für andere anwendet, aber nicht für sich selbst.

Dann fällt der erste Stein. Er fliegt nicht. Er wird losgelassen. Stein um Stein gleitet aus den Händen, fällt auf den Tempelboden. Alle werden entwaffnet.  Sie entwaffnen sich selbst. Sie wollten die Ehebrecherin bloßstellen,  jetzt sind sie selber bloßgestellt. Offensichtlich trifft Jesus mit dieser Frage ins Schwarze! Einer nach dem andern verlässt den Platz. Die Schriftgelehrten waren ehrliche Leute!   Sie haben den Blick auf sich selbst und ihre Sünden zugelassen.

Menschen gefällt es, über andere als Richter zu sitzen. Denken wir daran, wie mache Zeitschriften mit Menschen umgehen und ihre Fehler publik  machen. Je schmutziger die Nachricht, desto größer die Schlagzeile. Oder denken wir Cyber-Mobbing im Internet, Mobbing am Arbeitsplatz oder auch in der Schule. Kollegen stecken ihre Köpfe zusammen und reden über Kollegen,  Schüler stecken ihre Köpfe zusammen und reden über Mitschüler.

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Wir brauchen nicht mehr urteilen!  Ein anderer hat es getan! „Was sieht du den Splitter im Auge deines Bruders“ sagt Jesus einmal, „und siehst den Balken nicht in deinem eigenen Auge!“ (Mat 7,3)  Und wir dachten, der oder die andere hätte den Balken im Auge! „Seid also genauso barmherzig wie euer Vater, der voller Barmherzigkeit ist. Und verurteilt niemanden, dann werdet ihr auch nicht verurteilt werden. Behandelt niemanden von oben herab, dann werdet ihr auch nicht verächtlich behandelt. Vergebt anderen, dann werdet ihr auch Vergebung erfahren.“ (Luk 6,36-37)

Ich staune über die Männer, die die Frau gebracht haben, und die doch irgendwie demütig werden. Indem sie gehen bekennen sie: „Auch wir sind Sünder. Wir haben kein Recht, zu verurteilen.“ Gott und mich geht meine Schuld etwas an. Die Schuld des anderen geht ihn und Gott etwas an.

Ich staune auch über Jesus, wie er mit diesen Männern umgeht. Sie waren auf frischer Tat ertappt in ihrem Stolz, in ihrer Selbstgerechtigkeit. Jesus schützt auch sie. Er greift sie nicht an. Er stellt sie nicht bloß. Er  rettet  sie  aus ihrer scheinheiligen Entrüstung über diese Frau. Jesus bringt sie zu sich selbst, gibt zu erkennen, dass er sie durchschaut,  er macht ihnen einen ehrenhaften Rückzug möglich: Er bückt sich wieder, malt wieder im Sand, schaut ihnen nicht ins Gesicht.  Sie können ganz für sich und unbehelligt den Ort des Geschehens verlassen. Und das tun sie auch, einer nach dem andern.  „Das ist ein so großes Wunder, als hätte Jesus einen Toten auferweckt!“ las ich ein einer Predigt von Heidrun Moser.

Alle gehen. Nur die Frau bleibt.  Sie flieht nicht.  Keiner hält sie mehr fest. Alle sind weg. Sie aber bleibt mit ihrer Schuld vor Jesus. Sie macht keine Fluchtversuche, sie verharmlost nicht, was sie getan hat,   sie fängt nicht an, sich selbst zu entschuldigen. Sie bleibt mit ihrer Schuld vor Jesus stehen. Sie hält ihre Schuld vor ihm aus. „Ich habe den Tod verdient. Er hat mich vom Tod errettet!“

„Keiner mehr da, der dich verurteilt?“ „Nein.“ „Dann verurteile ich dich auch nicht!“ „Geh und sündige nicht mehr!“ Alle sind Sünder. Jesus müsste alle verurteilen oder allen vergeben und helfen. Er kann nicht die anderen in ihrer Schuld gehen lassen und diese Frau verurteilen! „Dann verurteile ich dich auch nicht“!“ Jesus ist nicht gekommen, um zu richten, sagt er einmal, sondern um zu vergeben und zu retten.

Einzelheiten  will er nicht wissen. Keine weiteren peinlichen Details. Er wahrt die Intimsphäre dieser Frau. Er ist nicht neugierig. Jesus ist ein Menschenhüter! Dabei weicht er das Gebot nicht auf!  Gerade den Schutz der Ehe hat er u.a. in der Bergpredigt verstärkt.  „Schon wer eine Frau ansieht und sie begehrt, bricht die Ehe“, schreibt er den Männern ins Stammbuch. Sie sind die Ehebrecher.

Er nennt die Sünde Sünde. Auch bei dieser Frau. Sünde trennt. Sie trennt von Gott, sie trennt vom Leben, von der Hoffnung, sie lässt Gemeinschaft zerbrechen. Diese Frau braucht Vergebung und Hilfe für einen neuen Anfang. Wird ihr Mann sie wieder aufnehmen? Warum war er nicht hier? Wird sie auf der Straße landen, obdachlos sein, mittelos, weil kein Mann sie mehr nehmen wird?  – Sie hat sicher noch einen schweren Weg vor sich. „Ich verurteile dich auch nicht, Geh, und sündige nicht mehr.“

Ob sie das geschafft hat, nicht mehr zu sündigen? Kann irgendjemand von uns von Jesus weggehen und nicht mehr sündigen? Ich stelle mir vor, dass diese Frau nie mehr die Ehe gebrochen hat. Das ist wohl auch gemeint. Sie wird nie wieder tun, was sie getan hat, weil sie begnadigt wurde. Nicht das Gesetz, sondern die Gnade wird ihr die Kraft dazu geben. Die Aufforderung von Jesus ist auch eine Befreiung, eine Bevollmächtigung: Sie wird nicht mehr sündigen, weil Jesus ihr die Kraft dazu geben wird.

Wir werden heute das Abendmahl feiern. Dann sitzen wir wieder neben Jesus. Im Kreise anderer, die alle seine Gnade brauchen. Und Jesus ist voll für uns da. Wir brauchen nichts verstecken. Und vielleicht hören wir es heute für uns: Keiner da, der dich verurteilt? Ich verurteile dich auch nicht. Geh hin und sündige nicht mehr.“

Amen.

Ich habe einige Gedanken übernommen aus der Predigt von Heidrun Moser vom 23.6.2013  www.evkg-albbruck.de

 

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