Empfangt die Gnade nicht vergeblich

Ich lese den ersten Teil unseres Predigttextes: 2. Korinther 6, 1-2:

1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. 2 Denn er spricht (Jes. 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Manchmal gibt es ganz besondere Momente im Leben.

Ich will euch von einem Jungen erzählen, der schwer verliebt ist. Kai liebt Karin. Er schwärmt für sie. Sie gehen in dieselbe Klasse. Er liebt ihr Gesicht, ihr Lachen, ihre Stimme, wie sie aussieht, aber er traut sich nicht, es ihr zu sagen. Wenn sie ihn anspricht, wird er rot. Sein Puls geht hoch, seine Stimme versagt. Wovon er nichts weiß: Sie liebt ihn genauso! Sie schwärmt für ihn. Karin liebt Kai und sie wartet darauf, dass er sie mal anspricht. Manchmal hat sie ihn schon auf dem Schulweg begleitet aber beide haben nur geschwiegen.

Aber dann, an einem Tag, zum Ende des Schuljahres, da ergibt sich die Chance, die Gelegenheit. Die Klasse macht einen Ausflug.  Sie wandern. Sie machen eine Pause im Wald mit herrlichem Ausblick. Kai sitzt etwas abseits auf einer Bank,  Karin setzt sich zu ihm, alle anderen sind weit weg. Da sagt Karin leise aber deutlich, und Kai traut seinen Ohren nicht: „Du, Kai, ich habe gehört, dass der Umfang einer Frauentaille genau so lang ist wie ein Männerarm!“ Kai wird blass, sein Herz schlägt bis zum Hals! Dann springt er auf und ruft:  „Warte, ich habe ein Metermaß, das kann ich holen, wir werden das nachmessen!“

Chance verpasst. So eine Gelegenheit wird es so schnell nicht wieder geben! Das war sein „Kairos“. Kairos ist ein griechisches Wort. Kairos ist der besondere Zeitpunkt, die Gelegenheit, die „rechte reife Zeit, um zu handeln“. Kai hat seinen Kairos verpasst. Auch Gott schenkt uns solche Gelegenheiten, besondere Zeitpunkte, gefüllte vorbereitete Momente.

Wenn der Grieche „Chronos“ sagt, dann meint er die Zeit, die vergeht, die man messen kann. „Chronos“ kann man an der Uhr ablesen und da ist jede Minute ganz genau gleich wie jede andere. Ohne Unterschied. Mitten in dieser Zeit aber, die vergeht, im Chronos, gibt es besondere Zeiten, dichte, erfüllte Zeiten. Von einer solchen Zeit schreibt Paulus den Korinthern: „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tag des Heils geholfen. Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ Paulus zitiert den Propheten Jeremia und sagt: Das ist heute passiert. Die Zeit der Gnade, von der Jeremia gesprochen hat, die ist jetzt.

Gott schenkt uns solche Tage der Gnade, solche Gelegenheiten, Momente, wie Karin dem Kai einen geschenkt hat. Dann haben wir unseren Kairos! Dann ist die Zeit reif! Gott öffnet eine Tür und schenkt eine Gelegenheit, wie wir sie vielleicht lange nicht mehr haben werden. Als säße Gott neben uns auf der Bank,   so nahe, wie wir ihn noch nie erlebt haben, und spielt uns den Ball zu:  Jetzt sag etwas. Jetzt antworte ihm. Nimm seine ausgestreckte Hand. Heute ist der Tag des Heils! Heute ist die Zeit der Gnade.

Solche Kairoi, das ist der Plural von Kairos, solche heiligen Momente schenkt er, wenn Menschen zum Glauben kommen, die ganze Situation scheint wie vorbereitet, genau geschaffen dafür, Gott Antwort zu geben. Aber immer wieder im Leben, ganz häufig gibt es solche Momente, die genau dafür geschaffen sind, jetzt eine Entscheidung zu treffen, jetzt etwas Bestimmtes zu tun. Manche Christen sprechen auch von einem Impuls, den sie bekommen: Heute soll ich jemanden anrufen oder besuchen.   Heute suche ich mir Hilfe!  Jetzt werde ich mich woanders bewerben. Heute suche ich das Gespräch, das schon so lange nötig ist.

Solche Entscheidungssituationen ergeben sich nicht nur spontan. Wir sind dabei in der Regel nicht passiv. Wir suchen etwas, beten für etwas, bringen Gott unsere Fragen oder unsere Not. Wir werden aktiv,  wir tun, was wir unsererseits tun können. Und Gott führt uns darin und dann kommt unser Kairos.

Kai und Karin habe ich erfunden. Die folgende Geschichte ist nicht erfunden. Mein jüngerer Bruder war 30 Jahre alt und noch nicht verheiratet. Dann hat er sich ein offensives „Ich-suche-eine-Frau-Jahr“ vorgenommen. Jetzt wollte er aktiv werden. Mein Bruder hat uns davon erzählt. Wir sollten es wissen und mit beten. Er las von einer Singlefreizeit der Bad Liebenzeller Schwesternschaft und hat sich angemeldet. „Bad Liebmichschnell“ haben wir dieses Werk dann umbenannt. Es war egal, wohin die Fahrt ging, Hauptsache, es waren gläubige Frauen im heiratsfähigen Alter dabei. Und es hat geklappt! Mein Bruder hat seine Frau kennen gelernt. 20 Jahre sind sie jetzt schon verheiratet.

So ist es in der Regel: Wir tun das Unsere, wir werden aktiv, beten um Gottes Führung und er schenkt dann den Kairos, den Moment, in dem wir unseren Mund aufmachen und handeln müssen.

Paulus schreibt also, jetzt ist die Zeit der Gnade und er mahnt, dass man die Gnade nicht vergeblich empfange! „Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt!“ (V1) Wie kann man Gottes Gnade vergeblich empfangen?

Erstens:  Gerade vorher hat Paulus geschrieben, dass Gott sich mit der ganzen Welt,  mit allen Menschen versöhnt hat. Er hat von seiner Seite aus  alles ausgeräumt, was zwischen ihm und uns  Menschen steht. Er hat seinen Zorn besiegt. Er steht jedem Menschen versöhnt, in Frieden gegenüber. Aber wir können das ausschlagen. Wir müssen seine Gnade nicht annehmen. Wir können ihn ablehnen. Er spricht Menschen an, kommt ihnen ganz nahe, und sie stehen sozusagen auf und holen das Maßband, weichen ihm aus. Man kann Gottes Gnade vergeblich empfangen, indem man sie nicht annimmt.

Zweitens: Wenn man Gottes Gnade aber annimmt, wenn man beginnt mit Gott zu leben und wenn man bei Jesus bleibt, kann man die Gnade nicht mehr verlieren. Aber immer noch kann man sie vergeblich empfangen! Zum Beispiel, wenn man die vielen Gelegenheiten nicht nutzt, die Gott für uns vorbereitet hat, Momente, Tage, an denen wir ihm nachfolgen und Menschen dienen könnten. Gott ruft, wir aber stellen unseren Anrufbeantworter ein mit der Dauerschleife „Geht gerade nicht, Herr, ich habe gerade anderes zu tun!“ Wir empfangen die Gnade vergeblich für unser Leben, für andere Menschen, für Gottes Ehre,  wenn wir uns nicht verändern lassen.

„Als Mitarbeiter ermahnen wir euch!“ schreibt Paulus. Wir arbeiten mit Gott zusammen. Wir alle! Ihr auch! Das griechische Wort für Mitarbeiter heißt „Synergoi“, Mitwirkende, Mitschaffende. Gott wirkt mit uns und durch uns auf dieser Welt. Wir sollen zuerst danach trachten, dass sein Wille geschieht, dass er in allem der Herr ist, dass Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen!

Gott macht vieles auf dieser Welt nicht alleine, nicht ohne uns. Gott macht vieles auf dieser Welt nicht alleine, nicht ohne uns. Und er kann vieles nicht wirken, er tut es zumindest nicht, weil wir uns verweigern. Menschen lernen Jesus nicht kennen, weil sie nichts über ihn hören. Da haben Christen die Gnade vergeblich empfangen und ihren Mund nicht aufbekommen. Sie haben nicht erkennen wollen, wie sehr auch ihre Mitmenschen Jesus gebraucht haben.

Christen haben die Gnade vergeblich empfangen und Einsame bleiben einsam, Hungernde bleiben hungrig, Kranke werden nicht gepflegt oder nicht besucht, Flüchtlinge nicht integriert. Christen unterschätzen ihre Rolle! Sie sind Akteure, keine Zuschauer. Sie sind Mitwirkende Gottes. Gott hat uns nicht ins Kino eingeladen, damit wir zuzusehen. Regie, Kamera, Effekte, Hauptrolle, alle Nebenrollen … alles Jesus!? Nein!  Wir sind Mitwirkende Gottes! Sein Wille geschieht mit uns! Er liebt Menschen, lädt sie ein, hilft ihnen, dient ihnen, und er tut es durch uns.

Ich glaube nicht, dass Paulus den Korinthern Angst machen will, dass sie die Gnade wieder verlieren, dass sie Gott wieder verlieren. Aber die können vergessen, wer sie sind, wozu sie da sind, wer in ihnen lebt und sich mit ihnen dieser Welt zuwenden will. Sie leben wie Ungetaufte, Unbekehrte, die nie in Gottes Eigentum übergegangen sind, die nie einen Herrschaftswechsel in ihrem Leben erlebt haben.

Diese Mitarbeit, in die wir alle berufen sind, sie gilt es zu bewähren gegen viele Widerstände.  In uns und von außen.  Diese Berufung als Mitarbeiter Gottes wird unser Leben lang angegriffen. Ich lese den Text weiter, 2. Kor 6, 3-10, ohne auf alles hier noch eingehen zu können:

3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde;
4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in
Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

Paulus und seine Mitarbeiter wollen in nichts einen Anstoß geben, dass ihr  Dienst verlästert  wird, dass ihre Arbeit unglaubwürdig wird. Sie wollen nicht durch ihr Verhalten, wie sie leben, umstoßen,  was  sie durch ihre Verkündigung aufbauen. Was heißt das, niemandem einen Anstoß geben? Das heißt nicht, dass man es allen recht machen soll. Wie soll das gehen? Der eine sagt „Ich mag nicht, dass du ständig Anzug trägst“, der andere sagt „Ich finde es unangemessen Sonntags Jeans zu tragen“. Es geht nicht darum, es anderen recht zu machen.

Mein Lehrer für Predigt und Seelsorger in Hamburg erzählte von einem Mann, der sich über seinen Sohn beschwerte. Ich kannte den Sohn unseres Dozenten, seine langen Haare haben fast seinen ganzen Rücken bedeckt. Dieser  ältere Christ nun kam zu unserem Dozenten  und sagte, er nehme Anstoß an den langen Haaren des Sohnes. Man solle doch anderen keinen Anstoß geben. Siegfried Liebschner, unser Dozent, sagte dem Mann, dass er es seinem Sohn sagen würde, aber dass er ja nie gedacht hätte, dass er, der alte Bruder, versucht sei, sein Haar lang wachsen zu lassen und dadurch in Glaubenskrisen kommen würde.

„Unmöglich, auf keinen Fall! Was denkst du denn von mir? Nie würde ich mir die Haare lang wachsen lassen!“ erboste sich der ältere Bruder. „Dann gibt dir mein Sohn gar keinen Anstoß, im Glauben Schaden zu nehmen, er soll es dir nur recht machen! Du aber willst meinem Sohn einen Anstoß geben, in seinem Glauben Schaden zu nehmen, weil du ihn nicht annehmen willst wie er ist.“ Es geht bei dem Anstoß, den wir anderen nicht geben sollen, darum, keine Stolpersteine aufzubauen oder liegen zu lassen, durch die  andere im Glauben Schaden nehmen könnten oder durch die unsere Arbeit unglaubwürdig wird. Niemand soll durch unser Verhalten in Anfechtungen kommen.

„In allem erweisen wir uns als Diener Gottes!“ schreibt Paulus dann und  zählt viele mögliche Lebensumstände auf, Schönes und Schweres,  Lob und Anerkennung und üble Nachrede, schlechte Gerüchte, die über einen in den Umlauf kommen, Ängste, Verfolgungen, Schläge, Gefängnis: „In allem, was das Leben auch bringen mag, in allem erweisen wir uns als Diener Gottes!“ Das ist sein Lebensmotto! Damit will er die Korinther und uns heute anstecken!

Haben wir schwere Tage? Ist irgendeine Not über unser Leben hereingebrochen? Geschieht uns Unrecht? Haben andere Menschen uns zu Feinden gemacht? Geht es uns gut? Geht es uns zu gut? Was auch ist: Wir halten an Jesus fest. Wir behalten seine versöhnende Haltung anderen gegenüber. In ihm haben wir unseren Halt. Gott wird uns führen und ernähren, auch an schweren Tagen. Wir geben die Hoffnung nicht auf. Und wir hören nicht auf, ihm zu dienen.

Menschen sehen auf uns. Gerade dann, wenn es uns nicht gut geht, wenn wir zu tragen haben, wenn unsere eigenen Schwächen so offensichtlich werden, dann sehen Menschen auf uns. Und wir wollen uns in allem als treue Diener Gott zeigen. Wir machen uns nicht abhängig von anderen Menschen, wie sie zu uns stehen. Wir gewinnen unsere Haltung bei Jesus und dienen ihm und Menschen. Wir ziehen uns nicht beleidigt oder ängstlich zurück. Wir bleiben stehen, wo Gott uns hingestellt hat und uns gebrauchen will.

„In allem erweisen wir uns als Diener Gottes!“ scheibt Paulus. Ich kann auf alle die Begriffe und Lebensumstände nicht eingehen, die er dann aufzählt. Vielleicht ist der erste Begriff, den er nennt, ein Schlüssel. „In Geduld!“ Geduld ist nötig, um sich als eine treue Dienerin, sich als ein treuer Diener von Jesus zu erweisen. „Hypomonä“ ist das griechische Wort. Ganz wörtlich: Drunter bleiben! Unter einer Last zu bleiben, sie nicht abzuwerfen, auszuharren, keine geistlichen Sprints hinzulegen, sondern ein geistlichen Langlauf üben,  weiterzumachen, auch wenn es Kraft kostet und sich keine schnellen Erfolge zeigen.

Kai liebt Karin und er verpasst seinen Kairos. Was hat Gott für und vorbereitet? Wo überall stellt er uns Situationen, schenkt uns Zeiten, Momente, Tage, die wir nur noch nutzen bräuchten? Wenn Gott uns in seinen Dienst ruft, brauchen wir Geduld. Und wir wollen niemandem ein Stolperstein sei, dass sie oder er im Glauben Schaden nimmt! Heute ist die Zeit der Gnade, und, Herr, wir wollen sie nicht vergeblich empfangen!

Amen.

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