Römer 11, 33-36 Gott ist unfassbar

Norbert Giebel 12.6.2022

Ich lese uns die letzten Verse von Kapitel 11 aus dem Römerbrief:

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!  Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jes 40,13) Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste“? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Liebe Christin, geliebter Christ,

Du meinst also, Gott zu kennen, ja?  Und ich sage dir: Das stimmt! Du kennst ihn, weil er sich dir gezeigt hat. Einen anderen Weg gibt es nicht. Du kennst ihn nicht, weil du ihn erkannt hast. ER hat den Weg zu dir gefunden, nicht umgekehrt. Du kennst Gott insofern, dass du dich darauf verlassen kannst, was er dir geschenkt hat: sich selbst, seine Liebe, seine Aufmerksamkeit, seine nicht endende Güte und Gnade, ewiges Leben. Du lebst von dem, was Gott dir geschenkt hat.

Gott kennen kann nur bedeuten, ihn zu lieben, ihm zu vertrauen. Sonst kennst du ihn nicht,  wenn er nicht Gott ist für dich, der Höchste,  der Größte, Wertvollste, der Schönste in deinem Leben, dann lernst du ihn erst noch kennen. Wenn Gott nur ein Teil in deinem Leben ist, kennst du ihn noch nicht wirklich. Wenn du ein Teil von seinem Leben wirst, dann kennst du ihn wirklich.

Du kennst Gott, weil und soweit er sich dir gezeigt hat. Aber ich sage dir auch: Du kennst Gott nicht! Nicht in dem Sinn, dass du alles über ihn weißt, schon gar nicht kannst du ihn in allem verstehst oder ihn berechnen. Es gibt auch  Menschen, die du kennst, mit denen du verbunden bist, auf die du dich verlässt, aber du weißt noch nicht alles von ihnen, sie können dich immer wieder überraschen, wenn du es zulässt und kein fertiges Bild von ihnen hast.

Du kannst staunen über jeden Menschen, wenn du aufhörst, dir ständig Bilder von ihm zu machen  und zu meinen, du weißt, „was das für einer ist“.  Du machst dir Bilder von Menschen und wirst keinem damit gerecht. Wie viel mehr gilt das für Gott! Du sollst dir kein Bildnis von Gott machen, du sollst Gott nicht festlegen auf deine Erkenntnis und deine Erfahrungen.

Gott bleibt immer ein Geheimnis. Gott ist so viel, so unendlich viel größer noch und anders, als du ihn dir vorstellen kannst. Nur ein dummer Mensch kann meinen, Gott in die Schachtel seiner Erkenntnis packen zu können und sagen zu können: „Jetzt habe ich ihn, jetzt weiß ich, wie Gott ist.“

Heute ist Sonntag Trinitatis, Sonntag der Dreieinigkeit. Wer kann das verstehen? Gott ist ein  Wesen in drei Personen. Ist das so? Haben wir es jetzt verstanden?  Gott ist drei Personen?  Hilft das weiter? Oder ist Gott ist  eine  Person, die uns durch drei Masken ansieht, die in drei Gestalten   lebt und wirkt. Gott ist eine Person, in der es aber schon Gemeinschaft gibt. Vater und Sohn sind eins, und doch kann der Sohn mit dem Vater reden,  ihm gehorchen, ihn in der Stille aufsuchen.

Der eine unendliche ewige und uns nicht zugängliche Gott ist Mensch geworden. Er bleibt als Vater im Himmel, unsichtbar, außerhalb unserer Welt. Und er wird Sohn, zeigt sich in seinem Sohn, liebt und leidet für uns. Und Vater und Sohn senden den Heiligen Geist. In ihm sind sie gegenwärtig, kommen Menschen nahe, reden und berühren Menschen, sammeln  und vereinen sie in Christus. Das kann man erleben, aber man kann es nicht verstehen. Gott bleibt geheimnisvoll.

Wenn die Bibel von Geheimnis spricht, ist etwas anderes gemeint als ein Rätsel. Bei einem Rätsel gibt es eine Lösung. Wer sich einem Rätsel zuwendet, der will es lösen, der will Antworten finden. Ein  Geheimnis  aber kann man nicht erklären. Es übersteigt unseren Verstand. Es entzieht sich unserem Zugriff. Man kann sich ihm nähern, es suchen, es erleben,  aber es bleibt meinen Zugriff verschlossen. Jedes Gebet, finde ich, ist ein Geheimnis, ein Wunder. Ich darf und kann mit Gott reden. Er hat Interesse an mir. Er hat Zeit, er ist ganz Ohr, er ist für mich da: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!  Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“

Paulus lobt die Tiefe der Weisheit und Erkenntnis Gottes. Gott kommt an sein Ziel. Gott bleibt sich selber treu. Gott führt Wege, die wir nicht verstehen. Aber er führt sie zu einem guten Ende. Paulus denkt an Gottes Weg mit Israel, mit dem Volk der Verheißung. Über drei Kapitel seines Briefes an die Christen im Rom ist das sein Thema.  Römer 9 bis 11. Was ist denn jetzt mit Israel? Für Paulus keine theoretische Frage. Paulus kann nicht distanziert und sachlich darüber nachdenken. Er ist selbst betroffen. Es ist sein Volk. Er leidet darunter. Was ist denn, wenn sie nicht an Jesus glauben? Was ist mit Gottes Treue Israel gegenüber? Warum erkennt Gottes Volk als Ganzes den Messias nicht?

Ich kann die Gedanken und Argumente von Paulus in den Kapiteln vorher nicht aufzählen. Nur zwei Punkte will ich herausheben: (1) Paulus leidet darunter, dass die Mehrheit der Juden Christus nicht erkennen. (2) Aber er hat die Gewissheit, dass am Ende einmal ganz Israel Jesus als den Messias erkennen wird. Darum lobt er Gott am Ende von Kapitel 11 für seine Weisheit und seine Wege:

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!  Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jes 40,13) Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste“? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen

Paulus bringt in seinem Lob zwei Zitate  aus dem Alten Testament. Eines aus dem Buch Jesaja, eines aus dem Buch Hiob. „O, wie wunderbar hat Gott uns geführt! Wie wunderbar sind seine Wege!“ Das ist die Stimmung des zweiten Teiles des Jesajabuches. Das hat das Volk in Babel erlebt. Sie hatten sich von Gott entfernt. Sie wurden besiegt und verschleppt. Sie haben alles verloren. Dann aber durften sie wieder heimkehren. Gott hat ihnen eine neue Perspektive geschenkt. „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«?“ zitiert Paulus aus Jesaja 40. Gott erbarmt sich seines Volkes. Gott hat Geduld mit denen, die er selbst gestraft hat. Er bleibt ihnen treu. Er führt sie heim. Gott gibt sie nicht auf.
Wie wunderbar sind seine Wege!

Paulus zitiert aber auch aus dem Hiobbuch. Hiob steht für das tiefe  und  unverständliche Leid eines Menschen. Paulus zitiert: „Wer hat Gott zuvor etwas gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?“ Hiob war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse. Gott selbst sagt über ihn: „Es gibt auf der Erde nicht  noch einen wie ihn!“  Aber es hilft Hiob nichts. Er kann deswegen nichts von Gott einfordern. Er hat Gott nichts gegeben, dass er fordernd vor Gott stehen könnte. Hiob verliert alles. Seinen Reichtum. Seine Familie. Seine Gesundheit.

„Wer hat Gott zuvor etwas gegeben, dass er es ihm vergelten müsste?“ Die Frage ist rhetorisch.  Niemand. Niemand hat Gott von sich aus etwas gegeben, dass Gott ihm etwas schuldig wäre. Gott ist niemandem gegenüber verpflichtet. Keiner kann sich vor Gott stellen und sagen: „Jetzt musst du aber segnen!“ Dafür steht Hiob:  Gott ist frei ins seinem Tun. Und manchmal, nicht selten, führt er Wege, die wir nicht verstehen.

Wie unglaublich gnädig wendet sich Gott Menschen zu, bewahrt sie beschenkt sie. Und wie unglaublich schwer führt er andere, wie Hiob. Wie unbegreiflich und unerforschlich sind seine Wege. „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“ So schließt Paulus seinen Hymnus am Ende von Römer 11. Alles kommt von ihm. Alles kommt durch ihn. Alle Dinge sind zu ihm hin. Wer will das verstehen?

Manchmal gibt es wunderbare Zufälle. Zufällig hat er eine Panne auf dem Heimweg. 3 Stunden hätte er noch fahren müssen. Zufällig kommt sie vorbei und hält an. Zufällig kommen beide aus der gleichen Stadt. Sie haben sich noch nie gesehen. Zufällig kann sie helfen. Zufällig geht er zwei Wochen später in eine Apotheke in einem Stadtteil, in dem er sonst nie ist, weil er Kopfschmerzen hat. Zufällig betritt sie die Apotheke, als er gerade bezahlt. Zufällig haben beide Zeit auf einen Kaffee im Café gegenüber. Durch lauter Zufälle sind sie ein Paar geworden.

Es gibt solche Geschichten. Der Glaube sagt Wunder zu solchen Zufällen. Gottes Wegführungen. „Das war kein Zufall!“ sagen wir dann. „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“ Hinter manchem Zufall steht ein heimlicher Autor.

„Alle gute Gabe“, schreibt Matthias Claudius in seinem Erntelied, „Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn.“ Alle gute Gabe, ja! Aber was ist mit den Schlägen, die uns treffen?  Mit einem Unglück, das uns überfällt? Mit einer Krankheit, die zur unpassendsten Zeit kommt?

Anfang Mai war ich auf einer Freizeit mit einigen Teenies. Und ich hatte einen Husten, wie ich ihn noch nie gehabt hatte. Ich konnte nicht schlafen wegen des Hustens. Anfang Juni hatten wir ein Open-Air-Gospelkonzert und einen großen Open-Air-Gottesdienst. Tage davor bekam ich Rückenschmerzen, wie ich sie selten gehabt habe. Wird es wieder gut sein bis zum Wochenende? Was soll das jetzt? Kommt das dann auch von Gott? Ich weiß es nicht,   aber es ist mir eher eine Hilfe, es aus Gottes Hand zu nehmen,  es mit ihm zu erleben, mich ganz nahe an ihn zu halten. Will er mir dadurch etwas sagen? Irgendetwas  dadurch an mir wirken? Ich will dafür offen sein, danach fragen.

Kommt auch das Schwere von Gott? Auch das Schwere musste an Gott vorbei. Auf jeden Fall kann Gott auch durch Schweres an mir wirken! Vielleicht rüttelt er mich wach  und will mich auf etwas aufmerksam machen! Mich ihm näher bringen? Was Paulus schreibt, ist nicht nur auf die Situation Israels zu verstehen: „Denn von Gott und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“

Kennst du die Ostsee?  Und die Nordsee?  Und das Mittelmeer? Warst du schon einmal am  Atlantik  oder   im indischen Ozean? Und wenn du alle Meere dieser Welt schon bereist hättest: Du kennst sie nicht in ihrer ganzen Tiefe. Du müsstest sie alle durchtauchen und erforschen. Unter der Oberfläche gibt es eine andere Welt. Da wird es bunt. In der Tiefe gibt es eine andere Welt. Da wird es ruhig. Das Meer ist unerschöpflich, undurchschaubar, unendlich. Wie viel mehr die Tiefe der Weisheit und Erkenntnis Gottes.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!  Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jes 40,13) Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste“? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!

Amen

Hinweis: Einige Gedanken habe ich genommen aus den Predigten zum selben Text von  Heiko Naß (predigten.evangelisch.de), und von Pfarrer Oswald (evangelisch-in-waiblingen.de) von 2016.

Zusatz: Wie argumentiert Paulus Römer 9-11?
(Ein Versuch)

  • Gott hat sein Volk Israel verstockt. Er hat sie taub und blind gemacht, weil sie in ihrem Stolz nicht hören und nicht sehen wollten.
  • Sie wollen durch ihr eigenes Tun und durch das Gesetz vor Gott gerecht werden. Sie sind wie geblendet. Sie erkennen nicht, dass Juden und Heiden jetzt allein durch Gnade zu Gott kommen.
  • Paulus erinnert an Jacob: Jacob, der zweite Sohn von Abraham, er wurde von Gott erwählt, obwohl er Unrecht getan hat und sich das Erbe von seinem älteren Bruder Esau erschlichen hat. Der Erstgeborene musste dem Zweitgeborenen dienen.
  • Die Heiden, Menschen aus anderen Völkern, die den Messias erkannt haben, sie sind die Später-Geborenen im Vergleich zu Israel. Aber sie sind die Erben, die Erwählten.
  • Israel, Gottes erwähltes Volk, tritt in die zweite Reihe. Ihnen wird das Erbe genommen. Wie einst Esau, den Gott als Erben abgelehnt hat.
  • Uns, die wir durch Christus von ihm berufen wurden aus allen Völkern, nicht nur von den Juden, uns zeigt er seine Herrlichkeit.
  • Die nicht sein Volk waren, sie werden Kinder Gottes genannt werden, wie schon Hosea gesagt hat.
  • Nur ein Rest Israels hat den Messias erkannt.
  • Der Rest aber steht für das Ganze. Er ist die Anzahlung für das Ganze.
  • Auch mit denen, die zum Untergang bestimmt waren, war Gott geduldig und hielt ihnen seine Treue.
  • Einmal wird ganz Israel den Messias erkennen. Das ist die Hoffnung von Paulus. Dafür lobt et Gott. Er sieht es noch nicht, aber er vertraut Gottes Wegen.
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