Der Tag ist nicht mehr fern

Römer 13, 8-12          Der Tag ist nicht mehr fern

Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist (2.Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3.Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.

Manchmal wache ich auf und habe keine Ahnung, wie spät es ist. Ich habe kein Gefühl dafür,  wie lange ich schon geschlafen habe. Ist es erst drei Uhr oder schon sechs Uhr? – Draußen jedenfalls ist es noch dunkel. ‚Die Nacht wird wohl noch eine Weile andauern‘, denke ich. Dann aber höre ich Kirchenglocken, mit einem Stundenschlag. Also doch schon früh am Morgen!? Hätte ich nicht gedacht. Draußen ist doch alles noch finster.

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

Im Bett ist es warm. Im Schlaf kann man träumen. Draußen ist es kalt und dunkel. In meinen Träumen  trägt niemand eine Maske. Wir halten keinen Abstand. In meinen Träumen schreit keiner vor Schmerzen. Es stirbt auch keiner. Alle leben und bleiben leben. Wenn ich träume, dann ist es hell. Da hat keiner Hunger, da muss niemand fliehen. Niemand stirbt, darum stirbt auch niemand ohne Hoffnung in meinem Träumen. Wenn ich schlafe, dann ist die Welt in Ordnung. Da draußen aber ist es dunkel. Da haben Menschen Not. Da gibt es Menschen ohne Hoffnung.   Man hat den Eindruck,  es wird noch immer dunkler in der Welt.

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

Ist das Weltklima noch zu retten? Welche Inseln werden zuerst überflutet? Wie lange wird noch geschossen? Wie viele Kinder werden heute in Jemen verhungern? Wie weit wird die Schere zwischen Arm und Reich noch auseinander gehen? Ist die Pandemie ein Zeichen der Endzeit? Manche meinen es. Wie Corona bewertet wird spaltet Teile der Gesellschaft. Auch Christen. Corona-Leugner, radikale Impfgegner, sie malen sich Schreckens-Szenarien aus. Sie bauen Feindbilder auf. Sie potenzieren ihre Ängste. Sie vertrauen niemandem mehr. ‚Wer der Presse glaubt,  der glaubt nicht richtig‘, meinen sie. Auch Christen denken so von anderen Christen. Die Pandemie wird zu einem geistlichen Kampf erhoben.

Wo wird das enden mit Corona, mit dem Klima, mit den Kriegen, mit der Ungerechtigkeit in der Welt? Wo sind die Christen, die Salz und Licht sind in dieser Welt, die anders leben, die ihre Hoffnung bekennen?

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

Die vorgedrungene Nacht, das Dunkel und das Licht  gehören zum Advent. Paulus schreibt:

„Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.
So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.“
„Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“

Man hat eher den Eindruck, die Nacht dauerte noch ewig. Das glaubt doch keiner, dass Liebe und Freiheit in die Menschen kommt. Gerechtigkeit statt Egoismus. Vertrauen statt Misstrauen. Wie lange dauert die Nacht noch? Wie oft haben die Glocken schon geschlagen? Wie spät ist es? – Paulus hat den Römern den Wecker gestellt. Er will die Christen aufwecken. Sie sollen nicht mehr schlafen. Sie leben im Zentrum der Macht, in einer großen Stadt. Sie sehen das Licht noch nicht, aber es kommt.

Wer steht schon  gerne auf, wenn es noch dunkel ist? Wer mag sein warmes Bett verlassen, wenn es draußen kalt ist? Wer kuschelt sich nicht lieber noch einmal in seine Bettdecke? Paulus rüttelt an den Schlafenden und zieht ihnen die Decke weg: Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. Vorfreude liegt in der Luft. Ein heller, ein herrlicher Morgen kündigt sich an. Diesen Sonnenaufgang darfst du nicht verpassen! Paulus ist wie ein Kind, das seine Eltern weckt, weil es an dem Tag Geburtstag hat. „Ihr müsst aufwachen, aufstehen, heute ist doch mein ganz besonderer Tag!“

Es dämmert noch. Der Himmel ist noch nicht blau, die Sonne noch nicht zu sehen. Aber du kannst aufstehen, dich bewegen, du kannst die anderen Menschen sehen. Du musst nicht mehr im Dunkeln gehen. Ihr Christen, reibt euch den Schlaf aus den Augen. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

Wenn man aufsteht, muss man sich umziehen. Sein Schlafgewand  ausziehen. Man geht nicht im  Nachthemd auf die Straße. Man geht nicht im Schlafanzug an die Arbeit. Normalerweise nicht. Paulus ruft auf, sich umzuziehen. Legt ab die Werke der Finsternis. Zieht an die Waffen des Lichts. Das Bild vom Ablegen alter Kleider und Anziehen neuer Kleider verwendet Paulus öfter. Auch Petrus verwendet es bei der Taufe. Die Täuflinge bekamen ein weißes Kleid an. Dieses Kleid sollte ein Symbol sein, dass Gott sie neu einkleidet. Sie sollen ihre alten Kleider ablegen.

„Legt ab alle Bosheit“ schreibt Petrus (1. Petr 2,1-2) „Hört auf zu lügen, zu betrügen, schlecht über andere zu reden!“ „Zieht euren Zorn aus! Sucht Frieden mit jedermann!“ (vgl. auch Eph. 4,25 und Kol 3,8) Paulus schreibt an anderer Stelle: „Lebt nicht mehr in dem verkehrten Denken der Heiden. Hört auf mit jeder Art von Unzucht. Hört auf mit aller Habgier. So zu leben, das verträgt sich nicht mit Christus. Also: Legt den alten Menschen ab mit seinen selbstsüchtigen Wünschen. Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.“ (Vgl. Epheser 4, 17-24) Denn der Herr kommt!

Paulus benutzt also in unserem Text ein weit verbreitetes Bild der frühen Christen: Steh auf. Der Morgen kommt. Zieh dich um. Hier, in unserem Text an die Römer, schreibt Paulus:

„Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt;  denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist (2.Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3.Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“

Was also sollen wir anziehen, wenn wir aufgeweckt wurden? Zieht die Liebe an. Lasst eure Herzen mit Liebe erfüllen. Schärft euer Sinne, dass ihr die Menschen mit Liebe anseht. Das ist kein Luxus. Das seid ihr ihnen schuldig. Das steht sozusagen in eurem  Vertrag, den Christus mit euch geschlossen hat. „Seid untereinander barmherzig wie euer Vater im Himmel mit euch barmherzig ist!“ „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ „Du kannst nicht Gott lieben und deinen Nächsten  im Dunkeln stehen lassen.“

„Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ Da steht Paulus in einer Linie mit Jesus. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. „Die Liebe tut dem anderen nichts Böses; daran erkennst du: Die Liebe erfüllt alle Gebote. Gott ist Liebe.“ Die Liebe tut mehr als jedes Gebot vorschreiben kann. Ihr sollt keine Mindestgebote formulieren,  was ihr für Menschen tut,  was diese Welt auch angeht, wieviel ihr spendet. Die Liebe kennt keine Mindestabgaben, keine Mindestlöhne; sie will, dass der andere  gut leben kann. Das ist euer Maßstab, wenn ihr Liebe habt. Das seid ihr den Menschen schuldig.

Legt ab die Werke der Finsternis. Zieht aus, was der Nacht gehört. Legt an die „Waffen des Lichts.“ Das sind keine Laserschwerter. Man kämpft nicht   gegen Menschen  mit den Waffen des Lichts. Sie töten keinen. Sie verletzten niemand. Sie drohen nicht. Die Waffen des Lichts sind Glaube, Hoffnung, Liebe. Christen, die andere anklagen, sich entrüsten, die andere mit ihren Waffen schlagen wollen, Christen, die meinen das Recht zu haben, andere zu verletzen, sie haben keine Waffen des Lichtes in der Hand. Sie schlagen andere mit ihrem Stolz. Ihnen fehlen Demut, Geduld und Barmherzigkeit. „Die Liebe tut dem anderen nichts Böses, so ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung!“ schreibt Paulus.

Die Waffen des Lichtes sind Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden. In seinem Brief an die Epheser fordert Paulus auf, eine Waffenrüstung Gottes anzuziehen. Wir haben nämlich nicht nur mit Fleisch und Blut zu kämpfen. Der Teufel und seine Mächte, sie versuchen uns von Christus weg zu treiben. Sie flüstern uns ein anderes Leben ein. Christen sind umkämpft. Es sind nicht nur gute Mächte unterwegs  in der Dämmerung. Ich lese uns den Abschnitt aus dem Epheserbrief einmal vor (Eph 4, 10-17). Da wird beschrieben, was wir anziehen sollen.

10: Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. 11 Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. 12 Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt, die über diese Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. 13 Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt.

Dann schreibt Paulus, womit wir uns schützen sollen. Alle geistlichen Waffen sind Verteidigungswaffen. Sie schaden niemand.

14 So steht nun fest, umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit   15 und beschuht an den Füßen, bereit für das Evangelium des Friedens. 16 Vor allen Dingen aber ergreift den Schild des Glaubens, mit dem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösen, 17 und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes.

Die Waffen des Lichts sind: Wahrheit, echt sein, treu sein, zuverlässig in unseren Worten. Wahrheit, das ist Liebe in Worten. Gerechtigkeit ist eine Waffe des Lichtes, d.h. anderen beistehen, egal was ihre Not ist. Gerechtigkeit, das ist Liebe in Taten. Frieden schaffen ist eine Waffe des Lichts, das heißt Gräben überwinden. Glauben anziehen, das heißt Gott zu vertrauen. Mit dem Wirken seines Geistes und seinem Reden rechnen. Das sollen Christen anziehen, weil es noch dunkel ist, weil aber der Herr schon kommt. Paulus lässt den Wecker klingeln. Wacht auf, steht auf, legt ab, zieht euch um! „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.“

Advent zu feiern, das hat im 3. und 4. Jhdt. angefangen. Die Zeit vor Weihnachten sollte eine Zeit der Besinnung sein. Eine Fastenzeit. Eine Zeit der Umkehr. Eine Zeit, sein Leben neu zu ordnen. Um die entscheidenden Fragen für das Leben zu beantworten, braucht man Ruhe, Zeiten ohne Ablenkung.

Wo bin ich eingeschlafen?
Wie lange schlafe ich schon?
Wohin gehe ich in meinem Dunkel?
Wo teile ich das Dunkle anderer Menschen?
Wo leugne ich die Nacht in dieser Welt?
Wo leugne ich das Licht, das schon jetzt kommen will?
Was will ich ausziehen?
Was will ich anziehen?

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

Jochen Klepper hat ein Adventlied zu diesem Vers geschrieben, das wir gleich singen werden. Die erste Strophe lautet:

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein
.

Jochen Klepper wusste was Nacht bedeutet. Er wird 1903 in einer Pfarrerfamilie geboren. Er ist ein schwaches, kränkliches Kind. Von Jugend an hat er mit Migräne zu tun. Er ist ein  weicher, mitfühlender, auch schwermütiger Mann. Er bricht ein Theologiestudium ab, um Schriftsteller zu werden.

1931 heiratet er die 13 Jahre ältere Witwe Hanni Stein. Es kommt zum Bruch mit seiner Familie. Hanni Stein ist Jüdin. Der Vater Jochen Kleppers ist evangelischer Pfarrer, aber er teilt den Antisemitismus vieler Deutscher und bricht den Kontakt zu seinem Sohn völlig ab. Auch Freunde distanzieren sich, als Klepper sich nicht von Hanni Stein scheiden lässt. Er verliert seine Stelle beim Berliner Rundfunk. Auch der Ullstein-Verlag kündigt ihm den Vertrag. Am 18. Dezember 1937 schreibt Jochen Klepper das Lied „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern!“

Vor dem Krieg gelingt es, eine der beiden Töchter ins Ausland zu bringen. Für die zweite Tochter und seine Frau Hanni aber gibt es keine Chance mehr. Sie müssen als Jüdinnen mit ihrer Deportation und Ermordung rechnen, obwohl sie Christinnen geworden waren. Klepper selbst hätte ausreisen dürfen, aber er bleibt in seiner dunklen Nacht, in seiner „Angst und Pein“ bei denen, die er liebt.

Am 10. Dezember 1942  erfährt Familie Klepper, dass die Namen von Hanni und ihrer zweiten Tochter auf der Liste für den nächsten Zug ins Konzentrationslager stehen. Am 11. Dezember 1942 nehmen sich Jochen Klepper, seine Frau Hanni und seine Stieftochter in ihrer Wohnung das Leben. Jochen Klepper schreibt in sein Tagebuch: “Über uns steht das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.”

Diese Welt ist dunkel. Vielleicht nicht in Deutschland, aber wenn man in die Welt sieht, hat man den Eindruck, sie wird immer dunkler. Paulus aber sieht schon den Kommenden, das Licht, den anbrechenden Tag. „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern!“

Wir singen.

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