Der Sabbat ist für den Menschen da

Liebe Gemeinde,

bitte stellt euch einmal eine schwierige Situation vor. Erstens: Da ist ein Mensch. Ein Mensch in Not, einer, der irgendetwas dringend braucht. Er hat Hunger oder Durst, er ist einsam oder verzweifelt, er ist nackt oder krank, er hat Schmerzen. Keine Frage: Dieser Mensch ist Gott wichtig! Wie Gott jeder Mensch wichtig ist. Er liebt ihn. Er will ihn versorgt sehen.

Und zweitens: Da ist ein Gebot, ein Gebot Gottes, ein Gebot, das Sinn hat. Das Problem aber ist: Wenn man das Gebot in diesem Fall befolgte, würde man dem Menschen schaden, der in Not ist, der Gott am Herzen liegt. Er würde nicht versorgt werden. Er würde sogar Schaden nehmen.

Mensch und Gebot stehen in dieser Situation im Konflikt: Wenn man das Gebot befolgt, nimmt der Mensch Schaden. Wenn man dem Menschen gibt oder erlaubt, was er braucht, dann würde man Gottes Gebot verlassen. Was also ist zu tun? Was ist Gott wichtiger? Dass der Mensch lebt, dass Gott ihn beschenken kann und er mit Gott leben kann, oder dass das Gebot in jedem Fall beachtet wird? Um diese Frage geht es ganz praktisch im heutigen Predigttext. Ich lese Markus 12, 23-28

23 Und es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.

Liebe Gemeinde,

Jesus steht ohnehin schon bei den Frommen unter Beobachtung. Wie er mit dem Gesetz umgeht, das provoziert sie. Er hat Kontakt mit unreinen Menschen, berührt sie, er heilt am Sabbat. Die Frommen hatten Jesus ohnehin schon auf dem Kieker.

Vierzig Schritte durfte man am Sabbat gehen. Mehr war nicht erlaubt. Der Weg zur Synagoge und zurück zählte nicht. Alles andere galt als Arbeit, als unerlaubte Bewegung am Sabbat. Aber was tut Jesus? Er ist am Sabbat mit seinen Jüngern unterwegs. Er geht über Land, sie nähern sich einem Dorf, kommen an Kornfeldern vorbei und die Jünger haben Hunger. Sie sind Menschen mit einer bestimmten Not. Sie haben Hunger. Am Sabbat aber, das ist das Gebot, durfte man nicht ernten, auch keine Ähren pflücken, das Korn herausreiben und essen.

Die Jünger verstoßen gegen das Sabbatgebot, wie es die Gesetzestreuen verstanden. Das wussten die Jünger, sie waren gläubige Juden. Auch Jesus wusste das, aber er lässt es zu. Offensichtlich war das für sie eine Ausnahme, die erlaubt war. Sie wollten keineswegs damit den Sabbat abschaffen. Aber darf es denn Ausnahmen geben, Abweichungen, Aufweichungen vom Gebot Gottes?

Den Sabbat zu halten, das ist nicht irgendein Gebot am Rande. Das Sabbatgebot gehört zu den zehn Geboten. Kein anderes Gebot wurde so genau ausgelegt, festgelegt und gelebt wie das Sabbatgebot. Wenn man da erst anfängt, abzuweichen wo soll es dann enden? In den zehn Geboten steht „du sollst keinen anderen Gott in deinem Leben haben“, „du sollst nicht lügen“, „du sollst nicht ehebrechen“, „du sollst nicht töten“. In diese Kategorie gehört das Gebot Gottes: „Du sollst am siebten Tag der Woche nicht arbeiten.“

Neben der Beschneidung der Männer war der Sabbat das Erkennungszeichen Israels. Wer diese Gebote hielt, der zeigte sich als einer, der zu Israel und zu seinem Gott Jahwe gehörte. Das Brechen des Sabbats konnte nach dem Gesetz sogar mit dem Tod bestraft werden. Es geht hier um ein Kerngebot des Glaubens. Um zu verstehen, worum es beim Sabbat geht, lese ich uns das dritte Gebot aus dem zweiten Buch Mose Kapitel 20:

“Halte den Ruhetag in Ehren, den siebten Tag der Woche! Er ist ein heiliger Tag, der dem Herrn gehört. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Tätigkeiten verrichten; aber der siebte Tag ist der Ruhetag des Herrn, deines Gottes. An diesem Tag sollst du nicht arbeiten, auch nicht dein Sohn oder deine Tochter, dein Sklave oder deine Sklavin, dein Vieh oder der Fremde, der bei dir lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer mit allem, was lebt, geschaffen. Am siebten Tag aber ruhte er. Deshalb hat er den siebten Tag der Woche gesegnet und zu einem heiligen Tag erklärt, der ihm gehört…”
(2. Mose 20, 8 – 11).

Der Sabbat soll dem Herrn gehören. Und dazu soll er ein Ruhetag sein. Das hebräische Wort sabbat heißt aufhören. Am Sabbat soll man aufhören mit Arbeiten und Sorgen und Geschäfte machen. Ein Tag, an dem man zu Kräften kommt, ausruhen kann, Zeit für Gott hat, betet, vom Reden zum Hören auf Gott kommt. Bis heute gibt es in den Synagogen keine Bittgebete am Sabbat.  Am Sabbat hört sogar das Bitten auf. Man feiert Gott. Alle unsere Sorgen werden zurück gestellt, ihm überlassen.

Der Sabbat ist ein Tag des Herrn und ein Tag für die Menschen. Besonders die Armen, Slaven, Fremde, Knechte und Mägde sind Nutznießer. Schutzgenießer. Der Sabbat ist ein Menschenrecht, weil Gott weiß, was gut ist für den Menschen, weil er das Beste für sie will, weil viele Menschen drohen, sich durch Arbeit und Sorge kaputt zu machen. – Hör auf damit am Sabbat!

„Warum tun deine Jünger, was am Sabbat nicht erlaubt ist?“ „Warum lässt du es zu, Jesus, dass sie den Sabbat brechen?“ – Jesus will den Sabbat nicht abschaffen. Die fromme jüdische Tradition aber hatte aus dem Tag der Freiheit und Ruhe einen Tag mit ganz viel Druck und Zwang gemacht. Es ging gar nicht mehr um den Menschen. Das Gebot, das den Armen dienen und sie schützen sollte, wird jetzt gegen Hungernde angewandt.

In letzter Konsequenz hätten die Frommen eigentlich die Fremden, Sklaven und Tiere anbinden müssen, damit sie sich bloß nicht bewegen oder mehr als 40 Schritte gehen, denn das scheint ja Gottes Wille zu sein. Genau so aber wurde Gottes guter Wille pervertiert.
Der Sinn des Gebotes, dass es Mensch und Tier gut geht, spielte keine Rolle mehr.

Die Frage, was dem Menschen gut tut, was ihm hilft, diese Frage durfte gar nicht gestellt werden. Das Gebot musste erfüllt werden, auch wenn es einem Menschen offensichtlich nicht gut tat. Das Gebot musste geschützt werden, nicht der Mensch.

Jesus stellt den Sabbat nicht infrage, aber wie der Sabbat gefeiert wird, wie er gehalten wird muss man sagen, denn von „Feier“ war da keine Spur mehr. Gott wird zu einem Aufpasser gemacht, dem es nicht mehr um die Menschen geht. Der Tag des Lebens wird zu einem Tag des Darbens. „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen!“ sagt Jesus.

„Warum tun deine Jünger, was am Sabbat nicht erlaubt ist?“ Weil sie Hunger haben. Weil sie es brauchen. Weil der Hunger sie nur hindern würde, in Ruhe zu Gott zu kommen, Kräfte zu tanken, sich nach ihm auszurichten. Und Jesus beruft sich dabei auf David. Er sagt: „Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: Wie er ging in das Haus Gottes – also in den Tempel – zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?“

Schaubrote lagen jeweils für eine Woche im Tempel. Dann mussten sie gegessen werden, aber nur die Priester durften sie essen und nur an diesem Ort. David hatte gegen das Gebot verstoßen, im Einverständnis mit dem Priester, weil Menschen in Not waren. Jesus setzt sich noch über David, indem er sagt, dass der Menschensohn auch Herr über den Sabbat ist.

Das Wort Menschensohn ist interessant. Ben-Adam auf Hebräisch. Es ist einerseits ein Titel aus dem Alten Testament, den Jesus auf sich bezieht. Ben-Adam heißt aber wörtlich einfach nur „ein Mensch“, „ein einzelner Mensch“, „ein Sohn eines Menschen“. Das Wort ben steht für die Einzahl. Man kann also lesen: Jesus steht über dem Sabbat. Oder auch: Ein einzelner Mensch, ein Mensch steht mit dem, was er zum Leben braucht, über dem Sabbat.

Jesus sagt nicht „Ihr müsst die Jünger verstehen, sie hatten einen solchen Hunger.“ Er sagt“ „Ihr versteht den Sabbat nicht. Ihr versteht nicht, was Gott will mit seinen Geboten.“

Die Christen haben von Anfang an den Ruhetag auf Sonntag verlegt. Christus ist am ersten Tag der Woche auferstanden. Das hat den Christen als Argument gereicht, anders als es in den zehn Geboten heißt, nicht den siebten, sondern den ersten Tag der Woche als Ruhetag zu nehmen. Das zeigt einerseits ihre Bindung an das Gesetz. Das Gebot des Ruhetages gilt auch für sie. Und es zeigt anderseits ihre Freiheit vom Gesetz. Die Juden kann man daran erkennen, dass sie den Sabbat heiligen, die Christen aber feiern am Sonntag und freuen sich über die Auferstehung des Messias.

Die Gebote sind für den Menschen da. Gott weiß, was gut für uns ist. Er hat uns ja geschaffen. Er kennt auch unsere Schwächen. Darum hat er seine Gebote gegeben. Nicht um uns zu ärgern, sondern, damit es uns gut geht. Es gibt Situationen, in denen einem Mensch ganz offensichtlich nichts Gutes getan wird, wenn wir auf ein bestimmtes Gebot pochen. Das ist schwerer. Das kann in der Praxis schwer zu entscheiden sein. Es ist leichter, auf alles und jede Situation die gleiche Antwort zu haben. Klare Regeln.

„Können sie nicht lesen? Hier steht ‚Einfahrt frei halten‘!“ „Entschuldigen sie, ich hole nur schnell meine Mutter vom Arzt ab. Sie kann nicht so weit laufen!“

Der Krankenwagen darf zur Not durch Rot fahren. Damit sind die Verkehrsregeln nicht aufgehoben. Aber es geht hier um einen Menschen, der offensichtlich in Not ist und Hilfe braucht. Da dürfen, da müssen die Verkehrsregeln einmal ausgesetzt werden.

Gebote sollen dem Leben dienen und es nicht gefährden.

Vor vielen Jahren war ich in einer Gemeinde zu einer Schulung eingeladen. Da erzählte einer aus der Gemeinde dort, er hätte vor Jahren einen alten Schulfreund wieder getroffen. Der steckte damals in einer schweren Krise. Er lud ihn ein und er kam mit Gemeinde, kam zum Glauben, hat sich taufen lassen, hat mitgearbeitet. Und dann sei er mit einer Frau zusammengezogen. Unverheiratet.

Der Bruder erzählte stolz, weil er es für richtig hielt, dass er seinen alten Freund besucht hätte und ihm gesagt hätte, er würde in Sünde leben, er müsse bei der Frau ausziehen, andernfalls würde er es der Gemeindeleitung mitteilen. Daraufhin sei der alte Freund sofort aus der Gemeinde ausgetreten und nie wieder gekommen.

„Hast du denn noch Kontakt zu ihm?“ habe ich den Bruder gefragt. „Nein. Wir haben keinen Kontakt mehr.“ „Ob du deinem alten Freund oder irgendjemandem damit einen guten Dienst erwiesen hast, oder ob du ihm geschadet hast für die Ewigkeit, das wird die Ewigkeit zeigen!“, habe ich ihm dann gesagt.

Da hat jemand Gottes Gebot verteidigt, so wie er es verstanden hat (!), und hat einen Menschen von Gott weggetrieben.

Jesus ermutigt uns zu fragen: Was dient dem Menschen? „Der Sabbat ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.“ Gott geht es um die Menschen.

So sehr hat Gott die Welt geliebt, die gefallene Welt, die kaputte Welt, die Menschen mit ihren Brüchen, mit ihrer Schuld und ihren Grenzen, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Amen.

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