Vater, reiß den Himmel auf

Ihr Lieben,

Advent, das ist doch eine schöne Zeit, oder? Draußen wird es kälter und sehr früh schon dunkel. Drinnen wird es wärmer. Eine Kerze nach der anderen. Es duftet nach den Nadelzweigen. Zum Kaffee oder Tee gibt es Stollen. Die schönen alten dicken Pullover kommen wieder raus. Die ganze Stadt ist geschmückt. Und am Abend schmeckt der Glühwein. Vielleicht könnte man eine Predigtreihe darüber machen, über Kerzen, Kekse, Stollen und Nadelbäume, die auch im Winter grünen. Da gibt es viele anrührende kleine Geschichten. Manchen würde es gefallen, solche Geschichten auch im Gottesdienst zu hören.

Die Geschichte von der fünften Adventskerze. Es bricht ihr das Herz, das für sie kein Platz mehr auf dem Adventskranz ist. Sie möchte doch auch so gerne für Jesus brennen. Dann aber wird sie Weihnachten  angezündet. Die Freude ist groß. Sie wird rot vor Scham. Happy End. So etwas möchten wir hören. Wenigstens in der Adventszeit soll die große, traurige Welt draußen bleiben. Und die Gottesdienste sollen unsere Adventsstimmung weiter anfeuern. – Der Predigttext heute ist für eine wohlige Adventsstimmung nicht geeignet.  Ich lese Jesaja 43,15-64,3:

15Herr, sieh herab von deinem Himmel, wo du in Heiligkeit und Hoheit thronst! Wo ist deine brennende Liebe zu uns? Wo ist deine unvergleichliche Macht? Hast du kein Erbarmen mehr mit uns? Wir spüren nichts davon, dass du uns liebst!

16Herr, du bist doch unser Vater! Abraham weiß nichts von uns, auch Jakob kennt uns nicht; unsere Stammväter können uns nicht helfen. Aber du, Herr, bist unser wahrer Vater! »Unser Befreier seit Urzeiten« – das ist dein Name.

17Warum hast du zugelassen, dass wir von deinem Weg abwichen? Warum hast du uns so starrsinnig gemacht, dass wir dir nicht mehr gehorchten? Wende dich uns wieder zu! Wir sind doch deine Diener, wir sind doch das Volk, das dir gehört!

18Es war nur für eine kurze Zeit, dass wir das Land besitzen durften; nun ist dein Heiligtum von den Feinden entweiht. 19Es ist, als wärst du nie unser Herrscher gewesen und als wären wir nicht das Volk, das du zu deinem Eigentum erklärt hast. Reiß doch den Himmel auf und komm herab, dass die Berge vor dir erbeben!

641Komm plötzlich, komm mit großer Macht, wie die Flammen trockenes Reisig ergreifen und das Wasser im Kessel zum Sieden bringen! Deine Feinde sollen erfahren, wer du bist; die Völker sollen vor Angst vergehen.

2Vollbringe Taten, die uns staunen lassen und noch unsere kühnste Erwartung übertreffen! Komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! 3Noch nie hat man von einem Gott gehört, der mit dir zu vergleichen wäre; noch nie hat jemand einen Gott gesehen, der so gewaltige Dinge tut für alle, die auf ihn hoffen.

Ein Klagelied im Advent. Am Ende nicht ohne Hoffnung. Es kann doch nicht sein, dass Gott sich so geändert hat. Es kann nicht sein, dass er uns nicht mehr sieht, uns nicht mehr hört, dass ihn unser Elend kalt lässt. Gott ist doch nicht unbekannt verzogen. Er muss uns hören. Er wird uns hören.

Jesaja klopft an Gottes Tür.  Aber die ist verschlossen. Er klopft und ruft dringend. Die Tür bleibt verschlossen. “Knock, knock, knocking on Heavens Door!” Jesaja betet zu Gott und er vertritt sein ganzes Volk dabei. Er schreibt ein Lied. Alle können es mitsingen, mitbeten, ihre Verzweiflung ausdrücken. Der Predigttext ist der mittlere Teil eines Klageliedes.  Es geht von Jesaja 63, 7 bis 64, 11. Es beginnt mit einer Erinnerung an Gottes große Heilstaten in der Vergangenheit.

Damals war Gott erfahrbar. Damals  hatte er sie  sichtbar geführt. Gott hatte einen Plan    und es war offensichtlich und wunderbar, wie zielstrebig er sein Volk geführt hat. Gott hat sie schreien gehört,  als sie in Ägypten versklavt waren. Gott hat es nicht mehr ausgehalten.  Er selbst hat darunter gelitten.  Es war sein Leid. Er hat sie befreit. So singt der Prophet. Gott hat Mose mit wunderbarer Kraft ausgestattet. Er hat sie durch die Wüste geführt. Er hat sie in das Land gebracht, das er ihnen versprochen hatte. Er war zu ihnen gekommen. Er hat eingegriffen und sie befreit.

Das Klagelied erinnert an Gottes große Taten. Früher! Früher konnten sie sich auf Gott verlassen. Heute ist der Himmel verschlossen. Sie stehen vor großen Bergen in ihrem Leben. Angstmachend. Unüberwindbar. Und Gott fehlt. Gott ist nicht da. Er sagt nichts. Er tut nichts.

Advent heißt, nicht aufhören zu bitten. Ehrlich klagen. Nichts verdrängen. Sich nicht vertrösten zu lassen. „Ich geh nicht weg, Gott. Ich höre nicht auf. Reiß den Himmel auf! Tu etwas!  Wo ist deine Liebe? Wo ist deine Macht? Wo kämpfst du für uns? Ich sehe nichts davon! Kehr um, Gott!“ – Gott wird ins Gebet genommen.

Darf man das? Fragezeichen setzen hinter Gottes Tun oder Nichttun? Dieser Text tut es.  Nicht theoretisch, nicht in einer distanzierten Abhandlung über Gottes Wirken, sondern betend, laut rufend, ringend um Gott, tief betroffen. – Ist es denn nicht frommer, angemessener, Gott einfach machen zu lassen? Gehört es sich nicht, einfach einen Punkt zu machen hinter Gottes Reden und ebenso hinter sein Schweigen? Dieser Text tut es nicht!

Hier betet ein Glaube, der sich nicht abweisen lässt. Menschen, die nicht weiterwissen, die aber wissen: Wenn uns einer helfen kann, wenn uns einer retten kann, wenn uns einer richtig führen kann in dieser Zeit, dann ER. Darum singen sie ihren Protestsong: „Heiland reiß den Himmel auf!“

„Warum, “ fragen sie „warum hast du uns abirren lassen von deinem Weg? Warum hast du zugelassen, dass wir verstockt sind,  so stur,  so taub? Erbarme dich doch wieder über uns!“ Ein starkes Stück. Jetzt machen sie Gott auch noch für ihre Blindheit und Bosheit verantwortlich. Sie haben doch den rechten Weg verlassen! Sie haben nicht gehört auf die Propheten. Sie haben sich nichts sagen lassen.

Das Volk weiß um seine Schuld. Jesaja bekennt ihre Schuld wenig vor unserem Predigttext: „Sie waren widerspenstig und betrübten seinen Heiligen Geist! Darum ist er ihr Feind geworden!“ lesen wir Vers 10. Gott hat sie gemahnt und gewarnt, sie aber sind weiter ihren Geschäften nachgegangen. Letztlich, faktisch, so wie sie gelebt haben, haben sie trotz all ihrer Gottesdienste Gott und die Menschen vergessen, die er ihnen ans Herz legen wollte.

Sie haben ihren Glauben veräußerlicht. Ihre Gottesdienste waren ein Stück Kultur geworden.   Eine Begegnung mit dem heiligen Gott, der sie herausfordert, der sie sendet, der ihr Leben verändert, ein solches Wort haben sie lange nicht mehr gesucht. Das Volk weiß um seine Schuld. Sie haben nichts zu fordern. Aber sie sehnen sich danach, sie flehen und sie singen ihren Protestsong: „O Heiland reiß den Himmel auf!“

Ihre  Glaubensväter helfen auch nicht weiter. Abraham weiß nichts mehr von uns. Jakob kennt uns nicht. Die Väter können nicht mehr helfen!  Was früher war, war früher gut. Aber wir brauchen heute deine Hilfe. Ihr Leben braucht einen neuen Glauben, neues Vertrauen, andere Formen, andere Antworten, weil ihre Fragen andere sind. Der Tempel ist nicht mehr da.  Die Väter sind tot. Sie müssen ihren Glauben auf neue Beine stellen.

Wir brauchen dich heute als unseren Vater! „Du, Herr, bist doch unser Vater!“ Nirgends sonst im Alten Testament wagt einer diese Vateranrede für Gott. Nur hier, in diesem Klagelied, wird Gott drei Mal „unser Vater“ genannt (63,16 + 64,7). Mitten in der Klage findet sich eine hoch vertrauende, ganz neue Anrede Gottes.

Wer offen klagt, wer das ganze Dunkel, sein eigenes Dunkel offen zu Gott bringt, wer seine ganze  Trauer und Verzweiflung offen zu Gott bringt,  der findet  mitten in der Klage neuen Halt. Ihr könnt es auf einen Versuch ankommen lassen. Klagt doch einmal. Lasst alle Leid und alle Fragen laut werden.

Verschweigen und Verdrängen bringen uns weg von Gott. Wer schweigt, weil er verdrängt, wird oberflächlich im Glauben. Es entsteht ein Spalt unmerklich zwischen ihm und Gott. Er traut Gott nichts mehr zu. Er hat aufgehört von ihm noch etwas zu erwarten. Wer von Gott nichts mehr erwartet, der feiert keinen Advent. Verdrängen macht uns oberflächlich und unehrlich vor Gott. Offen zu klagen,  alle Fragen zuzulassen, unsere ganze Sehnsucht auszusprechen, das bringt uns neu zu Gott und wir erkennen ihn wieder mitten in unserem Klagen.

Adventszeit ist Gebetszeit. Was könnte das für dich bedeuten?

  • Vielleicht 15 Minuten am Tag einfach still sein vor ihm? Wäre das eine gute Übung für dich? Morgen fängst du an und dann bis Weihnachten jeden Tag 15 Minuten still sein?
  • Oder du suchst dir 5 oder 7 oder 10 Anliegen, die du jeden Tag vor Gott bringst. Bis zum 25.12. Das können kurze Gebete sein. Ein Zettel mit 5 Anliegen in deinem Kalender oder im Losungsbuch. „O Heiland, reiß den Himmel auf!“ betest du als Erstes und dann klagst du, bringst Gott deine Sehnsucht, bittest ihn für 5 Anliegen, vielleicht für die Flüchtlinge im Mittelmeer, und du hörst nicht auf zu beten. Von morgen bis zum 25.12. sind es 20 Tage. Adventszeit als besondere Gebetszeit.
  • Oder du betest und fragst Gott jeden Morgen „Wie soll ich Advent feiern?“ Was könntest du verlieren wenn du ihn fragst? „Wie soll ich Advent feiern?“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott dir dazu nichts zu sagen hat. „Du hast je bald Geburtstag“ auch so könntest du beten. „Du hast ja bald Geburtstag, Herr. Was wünscht du dir von mir?“

Weihnachten hat Gott den Himmel zerrissen. Wir beten „unter offenem Himmel“. Gott wohnt nicht mehr „da oben“,  unerreichbar, im Penthaus. Gott ist Parterre gezogen. Er wohnt im Erdgeschoss. Jesus ist bei uns „alle Tage bis an der Welt Ende“. (Matth 28 Ende) Und er lädt uns ein: „Klopft an und es wird euch aufgetan!“ (Matth 7,7)

Und er steht vor unserer Tür  und klopft bei uns,  ob wir aufmachen: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an!“ sagt er. „Wer meine Stimme hört und mir öffnet, zu dem werde ich  hineingehen, den Tisch decken und mein Mahl mit ihm feiern!“ (vgl. Offenbarung 3, 20)

Kerzen anzünden kann jeder.  Die allermeisten tun es. Fast alle auch essen Kekse und Stollen in diesen Tagen. Und der Glühwein schmeckt auch den Christen. Aber wie soll ich Advent feiern? Diese Welt braucht eine Kirche, sie braucht Christen, die in den Riss treten, die dem Leid und den Fragen nicht ausweichen und die beten: „O Heiland, reiß den Himmel auf!“

Das Klagelied bei Jesaja findet am Ende zur Hoffnung zurück. Wer nichts verdrängt, wer seine ganze Traurigkeit ausspricht, der findet auch zur Hoffnung zurück. Unser Predigttext endet:
„Reiß den Himmel auf und komm herab!“ (63,19)

„Vollbringe Taten, die uns staunen lassen und noch unsere kühnste Erwartung übertreffen! Komm herab, dass die Berge vor dir erbeben! 3Noch nie hat man von einem Gott gehört, der mit dir zu vergleichen wäre; noch nie hat jemand einen Gott gesehen, der so gewaltige Dinge tut für alle, die auf ihn hoffen.“ (64, 2-3)

Amen

Vor einiger Zeit sah ich einen alten Tatort. Er spielte in München. Es ging um einen Mord in einer Synagoge. Am Ende des Krimis sagt der Kommissar einem Rabbi, der nicht weiß, ob er in einem Punkt die Wahrheit sagen soll: „Einen Rabbi ohne Gottvertrauen, den braucht niemand!“ Stimmt: Eine Gemeinde oder Christen ohne Gottvertrauen, die braucht niemand in der Welt.

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