Wo ist Gott in meiner Verzweiflung?

Herzlich willkommen zu unserer Andacht am Sonntag. Besonders begrüßen möchte ich heute diejenigen, die Schweres durchmachen, die am Boden liegen, und auch die, die sich fragen: Wo ist Gott in meiner Not?  Ist sein Arm zu kurz?  Sieht er mich wirklich?  Wenn ihm alles möglich ist, warum hat er nicht auf mich aufgepasst?

Wir wollen keine Andacht halten. Wir wollen nicht nur irgendetwas hören. Wir wollen dem lebendigen Gott begegnen; und zwar genau so wie wir sind, mit allem, was wir sind. Ich möchte mit uns beten:

Ganz zuerst und vor allem, Herr, wollen wir dich begrüßen. Dich wollen wir suchen, dir begegnen in dieser Zeit. Lass uns in dir dem Vater begegnen, der uns liebt, dem Sohn, der alles für uns gegeben hat und dem du alle Macht gegeben hast, und lass uns dem Heiligen Geist begegnen, der uns tröstet, der uns neu an dich bindet und der die Kraft in unserem Lebens ist. Amen.

Zur Predigt lese ich uns Jesaja 40, 26-31:

26 Seht doch nur in die Höhe! Wer hat die Sterne da oben geschaffen? Er lässt sie alle aufmarschieren, das ganze unermessliche Heer. Jeden Stern ruft er einzeln mit Namen, und keiner bleibt fern, wenn er, der Mächtige und Gewaltige, ruft.
27 Ihr Leute von Israel, ihr Nachkommen Jakobs, warum klagt ihr: »Der Herr kümmert sich nicht um uns; unser Gott lässt es zu, dass uns Unrecht geschieht«? 28 Habt ihr denn nicht gehört? Habt ihr nicht begriffen? Der Herr ist Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, seine Macht reicht über die ganze Erde; er hat sie geschaffen! Er wird nicht müde, seine Kraft lässt nicht nach; seine Weisheit ist tief und unerschöpflich.
29 Er gibt den Müden Kraft und die Schwachen macht er stark. 30 Selbst junge Leute werden kraftlos, die Stärksten erlahmen. 31 Aber alle, die auf den Herrn vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft, es wachsen ihnen Flügel wie dem Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und brechen nicht zusammen.

Das ist ein Text für Menschen, die am Boden liegen. Für Ausgebrannte. Für Menschen, die verzweifelt sind und Zweifel haben. Verzweifeln können Menschen, die austherapiert sind. Denen keiner in ihren seelischen oder körperlichen Leiden mehr helfen kann. Verzweifeln können Jugendliche, die überfordert sind mit all den Entscheidungen, die sie zu treffen haben. Jugendliche, die an ihren kleinen und an der großen Welt verzweifeln. Verzweifeln können Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder ihr Geschäft, das sie in vielen Jahren aufgebaut haben.

Der Philosoph Sören Kierkegaard hat Verzweiflung definiert als „Nicht selbst-sein“. Fremdgesteuert werden. Ein Ereignis, eine Schuld, eine Angst in ihrem Leben, eine Trauer, ein Problem liegt so oben auf, dass sie die Kontrolle verloren haben. Sie können nicht abschalten von der Not, in der sie sich befinden. Sie ist immer präsent.

Man fühlt sich hilflos ausgeliefert. Alles Selbstvertrauen geht verloren. Der Selbstwert geht in den Keller. Man liegt am Boden und kommt nicht mehr auf die Beine. Sie sehen keine Perspektive. Auch Hilfe von außen gibt es nicht. Niemand kann retten. Keiner kann ihre Not lindern.   Es gibt keine Ratschläge, die helfen.

Menschen können Situationen erleben, die niemand in der Tiefe mitfühlen kann. Vielleicht, wenn einem ein Bein amputiert wird, wenn jemand nicht mehr laufen kann, wenn jemand ein Kind verloren hat oder in Trauer um seinen Partner ist, oder wenn jemand mit einer Sucht kämpft. Selbsthilfegruppen können eine Chance sein, wenigstens verstanden zu werden. Aber jeder muss durch seine eigene Wüste.

Menschen von außen, die das nicht erlebt haben, fragen „Geht es dir schon besser“?  Als könne man den Verlust, den man erlebt, der das Leben prägen wird, wie eine Erkältung oder einen Beinbruch in absehbarer Zeit  überwinden. „Trauer hört nie auf, man lernt aber damit zu leben!“ Diesen Satz habe einmal von einer Frau gehört, die ihren Mann verloren hat. „Trauer hört nie auf, man lernt aber damit zu leben!“ Sie hat es einem Paar gesagt, das keine Kinder bekommen kann und darüber trauerte und darüber verzweifelt war.

Für den Glauben sind solche Zeiten Herausforderungen. Gott auch jetzt zu vertrauen. Jetzt muss sich bewähren, was man vorher geglaubt und anderen erzählt hat. Aber sieht Gott mich wirklich? Interessiert ihn wirklich, wie es mir geht? Wie schwer wiegt ein Leben, ein Mensch, vor Gott in dieser chaotischen, ungerechten, leidvollen Welt?

Scheint ihnen das Bild zu düster, das ich zeichne? An Menschen in einer solchen Situation wendet sich Jesaja. Sie hatten sich ihr Leben aufgebaut, sie konnten auf eine lange Tradition ihrer Kultur und ihres Glaubens zurückblicken. Sie wussten, sie wähnten, sie dachten Gott auf ihrer Seite. Dann wurden sie besiegt, gefangen genommen, verschleppt, deportiert in eine fremde Welt, in die sie nie wollten. Tausende Kilometer in den Osten in eine fremde Kultur, von Menschen eines anderen Glaubens. Fern der Heimat mussten sie ihren Siegern dienen.

Ihre Sehnsucht nach Jerusalem, nach ihrer Heimat, nach ihrem Tempel, sie würde nie mehr erfüllt werden. Ihre Trauer um das, was sie dort einmal besessen haben, was sie sich aufgebaut haben, ihre Trauer vielleicht um Menschen, die sie im Krieg verloren haben, würde ihr Leben nie mehr verlassen. Und genau das sind ihre brennenden Fragen: Wo war Gott? Wo ist er jetzt? Warum hat er nicht auf sie aufgepasst? Interessieren wir ihn überhaupt noch? „Der Herr kümmert sich nicht um uns.“ sagen sie. „Gott hat uns vergessen. Dieses kleine Volk unter den großen Völkern dieser Welt. Die anderen sind größer, stärker.  Sie sind die Sieger.“

Wie begegnet man Menschen, die verzweifelt sind? Was sagt man ihnen? Kann man überhaupt Worte für sie finden? Die Freunde Hiobs zeigen, wie wenig ihre Worte helfen. Hiob hat alles verloren. Hab und Gut. Seine Kinder. Seine Gesundheit. Eine Zeit lang leiden die Freunde einfach mit. Schweigen. Dann fangen sie an zu reden. Sie wollen es erklären, warum es so weit kommen musste. Vielleicht weniger, weil es Hiob hilft, sondern weil sie eine Erklärung brauchen. Sie wollen es verstehen, sich ein Urteil bilden. Dann wäre ihre Welt wieder in Ordnung.

Auch Jesaja hört zuerst zu, bevor er Worte findet. Er bezieht sich auf das, was sie gesagt haben. „Gott kümmert sich nicht um uns. Gott hat uns vergessen.“ zitiert er sie. Er versteht ihre Klagen. Er kennt sie auch von sich selbst, denn er ist einer von ihnen. Er ist auch verschleppt nach Babylon, fern der Heimat, voller Sehnsucht und Trauer. Er fühlt mit. Er ist einer der Ihren. Sie sind in einer Selbsthilfegruppe. Vielleicht predigt er auch sich selbst, gegen die eigene Verzagtheit.

„Hebt den Kopf und seht nach oben!“ So fängt er an. „Seht euch die Sterne an!“ Heute wissen wir, dass viele Sterne größer sind als unsere Erde. Damals hat man sie sich eher klein vorgestellt, klein und weit weg, verstreut im All. Keiner weiß, wie viele es gibt und jeder Stern ist für sich alleine. Ohne eigenes Licht. Sterne leuchten nur, wenn jemand, wenn etwas sie anleuchtet.

Was Jesaja sagt, ist keine billige Floskel. Er sagt nicht einfach „Kopf hoch, du schaffst das, das wird schon wieder, reiß dich zusammen, man kann auch in Babel gut leben.“  Jesaja sagt ihnen nicht, sie sollen neu auf sich selbst oder ihre Situation sehen. Sie sollen ihre Kräfte neu mobilisieren. Er sagt auch nicht „Wir schaffen das“. Zu Gott hin sollen sie ihren Blick wenden. Und auf die Schöpfung weist er hin, um den Schöpfer wieder vor Augen zu haben.

„Hebt den Kopf und seht nach oben! Wer hat sie gemacht, die Sterne? Wer weiß ihre Zahl? Gott hat sie alle geschaffen und er kennt sie alle mit Namen! Das heißt: Er hat sie im Blick.  Er hat eine Beziehung zu ihnen. Er ist vertraut mit ihnen. Er ruft sie mit Namen und alle kommen. Nicht einer, den er nicht kennt und der nicht auf ihn hört, wenn er ruft. Gott sitzt im Regiment.  Er hat das Größte und das Allerkleinste in seiner Hand.

Als Christen, durch Jesus Christus, können wir noch mehr sagen als Jesaja. Wir sehen es noch viel deutlicher. Wir müssen ergänzen: Und dieser Gott, der regiert, ist die Liebe. Er tut alles für seine Kinder. Er gibt alles für seine Kinder. Er hat seine Herrschaft seinem Sohn übergeben, der alles für uns getan hat und seine Liebe zu uns ist ungebrochen.

Und Gott wird nicht müde. Er ist nie nur halbwach. Seine Augen fallen ihm nie zu. Gott braucht keinen Schlaf. Er ist immer voll konzentriert, ganz bei sich und ganz bei uns! Seine Kraft geht ihm nie aus. Er kann laufen und laufen und laufen. Er kann lieben und lieben und lieben. Er kann leiten und leiten und leiten. Er hat Geduld und Geduld und Geduld. Er ermattet nicht. Er ist stark und sein Arm kommt überall hin.

Wie viele Menschen gibt es auf dieser Welt? 7,5 Milliarden! Sind es mehr Menschen als es Sterne gibt? Wohl kaum! Laut Tagesspiegel gibt es 100 Milliarden Galaxien und jede Galaxie mit 100 Milliarden Sternen. Und Gott kennt sie alle mit Namen. Es ist Gott ein kleines, auch das Volk Israel in Babylon zu sehen. Es ist Gott ein kleines, jeden Menschen zu sehen und mit Namen zu kennen. Gott braucht keinen Schummelzettel um nachzusehen, wie du heißt, wo du herkommst, wo du jetzt bist, wie es dir geht. Er hat dich jeden Tag vor Augen. Er sieht deine Augen, dein Herz und was dir weh tut.

Weißt du, wie viel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt
Weißt du, wie viel Wolken gehen
Weit hinüber alle Welt
Gott der Herr hat sie gezählet,
Dass ihm auch nicht eines fehlet
An der ganzen großen Zahl
An der ganzen großen Zahl

Weißt du wie viel Mücklein spielen / In der hellen Sonnenglut, fängt die zweite Strophe an. Und das Lied endet mit der Zeile, dieser Gott, der alle Sterne kennt, er: Kennt auch dich und hat dich lieb.

Seine Weisheit in unerforschlich, schreibt Jesaja. Das ist wohl wahr und das ist nicht leicht für uns. Wie oft erleben wir seine Weisheit als Geschenk für uns! Aber sie wirft auch Fragen auf. Warum bekommt das eine Paar fünf gesunde Kinder, und das andere bekommt nur eins und es stirbt noch als Kind? Warum können manche noch mit 90 Fahrradfahren und andere sitzen schon viele Jahre früher im Rollstuhl oder schaffen mit Not gerade noch mit kleinen Schritten den Weg von ihrem Bett zur Toilette? Warum sind die einen gefangen in Babylon und die anderen können sich frei bewegen?

Wir können Gott nicht erforschen. Aber er trägt uns. Er bleibt an unserer Seite. Er führt uns durch unsere Wüsten. Er gibt uns sein Manna, seine Speise. Er erfrischt uns mit seinem Geist. „Er gibt den Müden Kraft und die Schwachen macht er stark.“ „Alle, die auf den Herrn vertrauen, bekommen immer wieder neue Kraft!“

Gott zu vertrauen, das ist kein Selbstgänger. Das geht nicht wie von selbst. Wer verzweifelt ist, dem geht auch das Vertrauen zu Gott mal gegen Null. Da ist kein gutes Gefühl mehr. Kein gefühltes Wissen, dass Gott es gut meint. Gott vertrauen in der Verzweiflung, das ist eine Entscheidung. An ihm festzuhalten. Von ihm die Hilfe zu erwarten. Eben nicht nur die Situation jetzt zu sehen. Nicht auf die eigenen Kräfte zu sehen. Auch nicht schon das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Sondern sich zu entscheiden, darauf zu vertrauen, dass Gott da ist, dass er mich sieht, dass er mich jeden Tag speisen wird und dass es nach der Wüste ein verheißenes Land gibt.

„Die auf den Herrn  harren“, bekommen immer wieder neue Kraft, hat Martin Luther übersetzt. Sie bekommen Flügel, dass sie auffahren wie Adler. Schweben. Vom Wind getragen werden. Adler flattern nicht mit ihren Flügeln. Sie werden getragen. Hoch hinaus getragen. Über den Wolken, da muss das Leben grenzenlos sein. Was für ein Bild von Leichtigkeit und Freiheit für Gefangene.

Sie gehen und werden nicht müde. Sie laufen und brechen nicht zusammen. Sie könnten müde werden auf dem Weg, der lang ist, aber sie werden nicht müde. Der Gott, der nicht müde wird, hält sich wach. Sie könnten zusammenbrechen,  der Weg ist nicht leicht. Aber sie werden aufrecht gehen. Mit festen Knien. Weil der Gott, dessen Kraft kein Ende hat, ihre Stärke ist.

Vertrauen ist eine Entscheidung. Dennoch will ich vier Bereiche nennen, die das Vertrauen stärken. Ich kann sie jetzt nur noch nennen, nicht weiter erklären. (Es sind vier „G“s:)

  1. Geduld ist nötig.
    Die eigene Situation annehmen. Sie bejahen. Das gehört jetzt in dieser Zeit zu deinem Leben. Lehne dich nicht dagegen auf. Das ist jetzt dein Weg bis zur Genesung. Du liegst sozusagen im Bett und Gott ist dein Arzt. Er wird dich gesund machen. Hab Geduld. Du liegst im Wasser nach einem Schiffbruch, aber Gott ist das Brett, an dem du dich festhältst. Er bringt dich ans andere Ufer. Hab Geduld.
  2. Bleibe im Gebet. Bete Psalmen, wenn dir die eigenen Worte ausgehen.
  3. Laufe nicht weg. Teile dein Leid mit anderen, mit einigen wenigen anderen vielleicht. Aber mehr noch: Freue dich mit an dem, was sie froh macht! Und lobe Gott mit ihnen!
  4. Bleibe in Gottes Wort. Diene anderen Menschen. Wie Jesaja, der selber ein Gefangener ein Ermutiger für andere Menschen geworden ist.

Wo ist Gott in der Krise?  Er ist da, wo er immer ist.  In seinem Sohn Jesus Christus. In ihm ist er an unserer Seite, alle Tage, bis an der Welt Ende. Redbull verleiht Flügel sagt die Eigenwerbung dieses Powergetränkes. Aber man stürzt auch schnell wieder ab. Die Flügel, die Gottes Geist bei uns wachsen lässt, sie tragen wirklich, nach ganz oben.

Amen.

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